Weil es so viele sind.
Multiperspektivisches Erinnern und Gedenken im universitären Kontext
8. Mai 2023
Projektworkshop anlässlich der Übergabe des Kunstwerks
von Elisabeth Schmirl an die Öffentlichkeit
8:30 – 20:00 Uhr
Unicorn, Conference Deck, Schubertstraße 6a, A-8010 Graz
Die Veranstaltung widmet sich multidirektionalem und multi- perspektivischem Erinnern und Gedenken zwischen Architek-
tur, Geschichte, Kunst, Universität und Öffentlichkeit an einem geschichtsträchtigen wie auch historisch kontaminierten Ort.
Im Fokus steht der bisherige Prozess der Neugestaltung des Stiegenhauses im Unicorn Gebäude, dem Start-up & Innovation Hub der Universität Graz: Von der ersten Projektidee, die ihren Ausgangspunkt in einem zeitgemäßen Umgang mit zwei Fresken aus der NS-Zeit nahm, über die Auslobung eines Kunstwettbe- werbs bis hin zu seiner Realisierung durch die Künstlerin Elisabeth Schmirl. Ziel des Workshops ist einerseits eine erste Zwischen- bilanz des bisherigen Prozesses vor dem Hintergrund einer aktuellen, postkoloniale Diskurse inkludierenden Gedächtnis- und Erinnerungskultur. Andererseits versteht sich die Veranstaltung als Auftakt für eine notwendigerweise weiterführende und vertie- fende Auseinandersetzung mit Fragen zukünftigen Gedenkens.
Das Projekt war von Beginn an kollaborativ angelegt und invol- viert Forschung, Lehre sowie außeruniversitäre und zivilgesell- schaftliche Akteur*innen. Es eröffnet neue Fragestellungen in Hinblick auf Räume, Mechanismen und Strategien des Erinnerns und Gedenkens. Ermöglicht wird ein konzentrierter Blick auf aktuelle Thematiken im Kontext einer transnationalen, multiper- spektivischen und multidirektionalen Erinnerungs- und Gedächt- niskultur und -politik.
Zum Kunst- und Gedenkprojekt „Weil es so viele sind.“
Die künstlerische Arbeit von Elisabeth Schmirl macht das weitläufige Stiegenhaus des Unicorn – 2021 als Start-up und Innovation Hub der Universität Graz eröffnet (Planung: arge leb idris architektur/architektin iris reiter) – zum multiperspektivischen Raum für Begegnung, Erinnern und Gedenken. Das 1868/69 errichtete Gebäude diente in der NS-Zeit als Hauptsitz des Studentenwerks Graz, einer Dienststelle des Reichstudentenwerks Berlin. Davon zeugen bis heute zwei nationalsozialistische Wandbilder, die im Jahr 1997 durch eine künstlerische Intervention von Richard Kriesche und Helmut Konrad erinnerungs- politisch kommentiert und 2017 in dieser Kombination unter Denkmalschutz gestellt wurden.
Auf diese Gemengelage reagiert das aktuelle Kunstprojekt „Weil es so viele sind.“ mit Porträts und Botschaften von einer Vielzahl zeitgenössischer und historischer, realer und fiktiver Figuren: „Zu sehen sind unikathafte, in flächigem Grau gedruckte Wandbilder. Sie ziehen sich durch das Stiegenhaus und manifes- tieren sich zwischen dem ersten und zweiten
Stock in einer Gruppendarstellung. Dort können Nutzer*innen des Stiegenhauses in Wandnähe mit ihrem Körper vielfarbige Schatten auslösen und sich mit den lebensgroßen, siebgedruckten Gruppen verbinden.“ (Elisabeth Schmirl)
Impulsgebend für die künstlerisch arrangierten Bilder und Texte war eine Sammlung von rund 70 historischen und zeitgenössischen Biografien realer Personen mit Beziehung zur Universität Graz. Sie sind zum einen Ausdruck der Pluralität der Universität; zum anderen waren sie entweder Opfer der national- sozialistischen Verfolgungspolitik oder sie fanden nach der Flucht vor repressiven Regimes des 20.
und 21. Jahrhunderts Aufnahme an der Universität Graz. Die Recherchen dazu führten Studierende der Universität Graz im Rahmen von zwei Lehrveranstal- tungen durch. Einerseits wurden historische Biografien von Forschenden und Studierenden erhoben, die in der Zeit des Nationalsozialismus von der Universität Graz vertriebenen wurden oder in der Nachkriegszeit als Displaced Persons oder Remigranten an der Universität ihre Studien fortsetzten. Andererseits wurden Interviews mit Menschen geführt, die in jüngster Vergangenheit aus unterschiedlichen Ländern der Welt nach Graz geflüchtet sind und hier an der Universität studiert, geforscht oder gelehrt haben.
Aus der Fülle an Materialien hat die Künstlerin Elisabeth Schmirl Bild- und Text-Zitate ausgewählt, diese mit fiktiven Figuren und Sätzen kombiniert und zu einem assoziativen Gefüge aus biografischen Fragmenten, visuellen Motiven, Symbolen, Gesten, Ge- danken und Aussagen zu Flucht, Erinnern und Gedenken montiert. In dieser vielschichtigen Gemengelage bietet das Stiegenhaus des Unicorn sowohl einen Ort der Erinnerung als auch des Ausblicks in die Zukunft.
Zur Geschichte des Gebäudes Schubert- straße 6a
1938/39 wurde die 1868/69 errichtete Gründerzeit- villa in der Schubertstraße 6a im Sinne national- sozialistischer Architekturvorstellungen umgebaut. In das Haus zog das Studentenwerk Graz, eine Dienststelle des Reichstudentenwerks Berlin, ein. Zeitgleich brachte der Grazer Maler Franz Köck 1939 im Treppenhaus auf Höhe des zweiten Obergeschosses zwei NS-Propagandafresken an. Das eine Wandbild mit dem Titel „Studententum in der Kampfzeit“ zeigt den Kampf der NS-Studenten in der Zeit der Illegalität, während der Zeit des autoritären austrofaschistischen Ständestaates von 1933 bis 1938. Das zweite Fresko mit dem Titel „Studententum in der Aufbauarbeit“ stellt den Triumph der NS-Studenten als Teil der NS-Volksgemeinschaft ab 1938 dar. Beide zusammen verherrlichen die nationalsozialistische Ideologie und dienten zur Ideologisierung der Studierenden.
Nach 1945 wurden beide Fresken übermalt. Erst im Zuge von Umbauarbeiten des damaligen ÖH-Gebäudes wurden sie wieder freigelegt und im Jahr 1997 durch eine künstlerische Intervention des Grazer Künstlers Richard Kriesche und des damaligen Rektors und Zeithistorikers Helmut Konrad erinnerungs- politisch kommentiert. Kriesche/Konrad setzten der bildlichen NS-Erzählung Köcks das universitäre Selbstverständnis einer weltoffenen und pluralen Universität entgegen. NS-Fresken und Intervention wurden 2017 als Mahnmal unter Denkmalschutz gestellt.
In den Jahren 2019 bis 2021 erfolgte eine weitere bauliche Umgestaltung des Gebäudes als Start-up & Innovation Hub der Universität Graz (Planung: arge leb idris architektur/architektin iris reiter). Die neue räumliche Situation verlieh den NS-Fresken und der künstlerischen Intervention neue Sichtbarkeit, sodass seitens des Architektenteams und des Rektorates eine neuerliche kritische künstlerische und wissen- schaftliche Auseinandersetzung mit dem Ort und den NS-Fresken angeregt wurde. 2021 wurde ein von <rotor> kuratierter Kunstwettbewerb ausgeschrieben – mit dem Ziel Menschen, die aus Graz und von der Universität vertrieben wurden oder hier Zuflucht gefunden haben, in Opposition zur Erzählung Köcks eine starke Stimme zu geben: als Botschafter*innen für die Überwindung von Vorurteilen und für Ver- antwortung gegenüber Demokratie, Umwelt und Gesellschaft. Gesucht war Kunst, die viele in den künstlerischen Entwicklungsprozess involviert und Vorbeigehende im Treppenhaus unmittelbar anspricht.
Mit der Eröffnung von Elisabeth Schmirls Projekt „Weil es so viele sind.“ im Jahr 2023 erfährt die kulturelle Praxis des Erinnerns und Gedenkens im Unicorn eine weitere, multiperspektivische Dimensionierung.
Elisabeth Schmirl zu den Hintergründen ihrer Arbeit
„Weil es so viele sind.“ – ist der Titel meines Beitrages zu der Gemengelage im Stiegenhaus des Unicorn.
Zu sehen sind unikathafte in flächigem grau gehaltene Wanddrucke. Sie ziehen sich durch das Stiegenhaus und manifestieren sich zwischen erstem und zweitem Stock in einer Gruppendarstellung. Ebendort können Nutzer*innen des Stiegenhauses in Wandnähe mit ihrem Körper vielfarbige Schatten auslösen, wenn sie sich den Figuren annähern und ihre Selbstwirksamkeit erproben. Der, durch additive Beleuchtung bewirkte, farbige Schattenwurf verbindet für die Dauer der Aus- einandersetzung die Passant*innen mit den lebens- großen, siebgedruckten Gruppen an den Wänden. Die lichtfarbige augenblickliche Brücke wird so lebendiger Teil der flachen Haut des Gebäudes. Menschen und Bildgestalten finden in diesem Spektrum der Vielheit zueinander.
Die erzählende Ebene collagiert verschiedene Rollen einer aktiven Zivilgesellschaft in ein Miteinander. Es deuten sich Möglichkeiten von aktivistischer Haltung an, Varianten der Teilhabe, der Manifestation von Zeitgenoss*innenschaft. Personen und Worte beziehen sich auf Archivmaterial, welches sich in zwei forschenden universitären Kontexten im Rahmen des Projektes ergab. Die Einbindung in den Vorlauf der Be- forschung und die historische Rekonstruktion empfand ich als wichtig und sehr bereichernd. Neben den „Archivboxen“ habe ich auch externes Bildmaterial amalgamiert. In dem Wissen, niemals auch nur annähernd alles einweben zu können und keinen Anspruch auf Linearität andeuten zu wollen, habe ich versucht, Offenheit ohne Unvollständigkeit zu erreichen und individuelle Portraits in archetypische Protagonist*innen zu wandeln, auch um sie vor den vielen Einflussfaktoren und Wechselwirkungen zu schützen und zu entkoppeln. „Weil es so viele sind.“ verhält sich nicht reproduzierend, sondern produzierend. Ein Gefüge von Kraftfeldern und Beziehungsnetzen, Vielheiten und Bezüglichkeiten vermischt sich – für mich eröffnet sich in den Leerstellen des Archivs der Raum zum poetischen Fabulieren.
So auch beim Titel: „Weil es so viele sind.“ ist eigentlich aus dem Zusammenhang genommen. Die Wortfolge stammt aus einem Interview aus der „Archivbox“: Die Frage nach den Vorbildern sei schwierig zu beantworten, sagt eine Interviewpartnerin, weil es so viele sind... Der Kontext ist breiter als ich ihn verwende. Vieldeutig eben. Lückenbehaftet. Unvollständig. Dennoch titelgebend und so passend
– nun beladen. Um im Angesicht dieser inhärenten Unvollständigkeit eine Umgangsweise mit den Hinterlassenschaften einer sich ständig vorwärts bewegenden Welt finden zu können, ist mein Ansatz ein sortierender, der Ebenen der Bedeutungen durch poetisches Fabulieren auf eine neue Ebene bringen möchte – eben, weil es so viele sind.
Projektinformationen
WEIL ES SO VIELE SIND. BECAUSE THERE ARE SO MANY.
Kunstwerk von Elisabeth Schmirl, 2023 Artwork by Elisabeth Schmirl 2023
EIN KUNST- UND GEDENKPROJEKT DER UNIVERSITÄT GRAZ AN ART AND MEMORY PROJECT OF THE UNIVERSITY OF GRAZ
Durchführungszeitraum: 2021–2023 Period of Realisation: 2021–2023 PROJEKTGRUPPE PROJECT GROUP
arge leb idris architektur/architect iris reiter: Jasmin Leb-Idris & Jakob Leb
< rotor > Zentrum für zeitgenössische Kunst < rotor > centre for contemporary art:
Margarethe Makovec & Anton Lederer
Universität Graz (Rektor Dr. Peter Riedler, Unicorn,
Centrum für Jüdische Studien, Institut für Kulturanthropologie
und Europäische Ethnologie, Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft / Arbeitsbereich Migration – Diversität – Bildung)
University of Graz (Rector Dr. Peter Riedler, Unicorn,
Center for Jewish Studies, Department of Cultural Anthropology and European Ethnology, Department of Educational Sciences / Migration – Diversity – Education)
ARCHIVRECHERCHE UND INTERVIEWS ARCHIVAL RESEARCH AND INTERVIEWS
Heimo Halbrainer, Brigitte Kukovetz, Judith Laister, Gerald Lamprecht als Lehrende mit as lecturers with Wanda Deutsch, Marco Jandl, Anđela Karać, Livia Kodritsch, Heribert Macher-Kroisenbrunner,
Lena Maierhofer, Nathalie Pollauf, Lena Prehal, Hannah Stadler und Antonia Unterholzer als Studierende as students.
INTERVIEW-PARTNER*INNEN INTERVIEW PARTNERS
Edith Abawe, Edvina Bešić, Sahar Mohsenzada, Asiyeh Panahi, Dženana Pupić, Masomah Regl, Emina Sarić, Livinus Nwoha, Fred Ohenhen, Kheder Shadman, Nibaldo Vargas Arias, Eyawo Godswill
HISTORISCHE BIOGRAFIEN HISTORICAL BIOGRAPHIES
Litman Altman, Helmut Bader, Georg Barabás, Kurt Bermann, Israel-Joel Cygielman, Alexander Emöd, Erwin Feuerstein, Henryk Eisig Fisch, Salo Fischer, Eugen Ganz, Imre Groszman, Klara-Nina Gottlieb, Koloman Gordin, Paul Grünwald, István Hamvas, Gerhard Haushalter, Rudolf Hennefeld, David Herzog, Wolfgang Hepner, Hans Herlinger, Isak Hirsch, Izrael Hochmann/Jerzy Horecki, Lisbeth Hochsinger/Hockey, Eva Horowicz, Erwin György Jungreis, Kurt Kasner, Gisela Kaufmann, Ladislaus Kohn, Zdenko Kraus, Kurt Kunewälder, Trude Lang, Stefan Lichtblau, Sibylle Lichtenstein, Erwin Lipa, Otto Loewi, Viktor Loewi, Karl Löwinger, Alois Mandel, Josef Markus, Siegmund Markus, Maks Pajewski, Eugen Pillischer, Otto Pollak, Ernst Rachmuth, István Reich, Adela Reich, David Salomon Riss, Fritz Röhr, Friedrich Rosenrauch, Hans Rottenstein, Erna Scheck, Georg Schossberger, Ladislaus Schwarz, Norman Shefrin, Gustav Singer, Grete Singer, Borys Smazanowicz, Szyja Tyger, Ellen Witrofsky
JURY KUNSTWETTBEWERB ART COMPETITION JURY
Christiane Kada, Judith Laister, Gerald Lamprecht, Jasmin Leb-Idris, Jakob Leb, Anton Lederer, Margarethe Makovec, Peter Riedler, Monika Sommer, Bernhard Weber
UMSETZUNG DES KUNSTWERKS PRODUCTION OF THE ART WORK
Elisabeth Schmirl
mit with Agnes Urthaler-Jansa, Magdalena Berger, Isabell Heigl, Stefan Heizinger, Vivien Nattrodt
ORT LOCATION
UNICORN Start-Up & Innovation Hub
Schubertstraße 6a, 8010 Graz, Austria
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