Wenn es um die Sicht auf das eigene Ich geht, spricht man in der Kunstgeschichte meist von Selbstporträts und meint damit ein Bild, das der Künstler, die Künstlerin als Bild der eigenen Person angefertigt hat. Dass damit oft Selbstzweifel und eigene Unsicherheiten verbunden sind, wie auch Eitelkeiten oder explizite Selbstdarstellung, ist unvermeidbar und je nach Situation der Selbstschau entsprechend abzulesen. Gerade in den Beispielen einer heute arrivierten Künstlergeneration gehören solchen Selbst-Bilder zum Repertoire und setzen eine Linie vom großen Überprüfer der eigenen Physiognomie und Mimik fort, von Lovis Corinth, der jeweils am 1. August, dem Tag seines Geburtstags ein Selbstporträt anfertigte und damit gleichsam einen konzeptuellen Überbau über das bloß momentane Spiegelbild verfertigte.
Neu und damit viel aktueller sind „imaginäre“ Selbstbilder, die nicht das Gesicht des ausführenden Künstlers, der unmittelbar tätigen Künstlerin, wiedergeben, sondern die sich mit dem Bild eines Gegenüber, das im übertragenen Sinn ein Selbstbildnis gewesen sein könnte, befassen; dieses wird in eine Sphäre jenseits des Abbildes übergeführt und damit als eine überindividuelle, allgemeinere und gültigere Person charakterisiert, die von einer bestimmten Porträtsituation ihren Ausgang genommen hat und doch ganz woanders hinführt:
Elisabeth Schmirl ist eben so eine Künstlerin, die Bekannte, Freundinnen, Paare, Passanten vorführt und dennoch weit über ein „normales“ Porträt hinausgeht. „Alle Augen auf mir“, „Jeder Sinn auf mich gerichtet“ – könnten ihre Porträtfiguren sagen, und dabei sind sie seltsam fremd, irgendwie entrückt, vage im Zurückweichen und doch dramatisch in der Ausleuchtung.
Die Künstlerin entwickelt ihre weiblichen Bildnisse, indem sich Vieles zu einem einzigen dichten Bildganzen amalgamiert. Bei den Vorlagen für ihre Bilder handelt es sich um „gestohlene“ Fotografien, die für jeden medial sichtbar und zugänglich gemacht worden sind. Der Fokus bei der Suche liegt vorwiegend auf Ich-Porträts, hauptsächlich von jungen Frauen, die Schmirl in Malerei umsetzt. Diese Mädchen haben die erste Phase der Selbst-Zeichnung hinter sich: in virtuellen Tagebüchern, in Weblogs, haben sie sich in Bilder verwandelt, hat sich der Blick auf das eigene Selbst in ein Anders-Bild gewendet. Der Betrachter sieht sich einem Selbstporträt gegenüber, dessen Herstellung aber jemand anderer als die porträtierte Person selbst vorgenommen hat – bildlicher Transfer und ideelle Interferenzen lassen so eine neue Bildgattung der „imaginären Anders-Bilder“ entstehen.
“Squares“ – so nennt sich beispielsweise eine wie nahtlos aneinander gereihte Folge von kleinformatigen Arbeiten; private Aufnahmen, die von der unbekannten Urheberin als repräsentativ genug befunden wurden, um online gestellt zu werden. Die meisten Aufnahmen wirken wie für eine Veröffentlichung gedacht, inszeniert, arrangiert, ausstaffiert, so zeigen sie in zumeist nahsichtiger Aufnahmen Gesichter junger attraktiver Frauen, die entweder herausfordernd den Blickkontakt zum Betrachter suchen, oder ihre Augen hinter einer Sonnenbrille, einer Maske verbergen, in selbstsicherer Pose und mit flippigen Klamotten. Untertitel wie Enface und moi-privée unterstreichen den intimen Charakter der ursprünglich privaten Webcam-Aufnahmen, der gleichzeitig in irritierendem Kontrast zum öffentlichen Charakter der Präsentation durch das Internet steht, dem sie Elisabeth Schmirl zur Bearbeitung entnommen hatte.
Die Arbeiten haben dabei in ihrer malerischen Umsetzung die sinnliche, atmende Durchlässigkeit einer körperlichen Membran, die Frauen wirken in ihrer zarten Lebendigkeit – während des Betrachters Augen auf sie gerichtet sind – wie hinter einem Schleier im kalten elektronischen Licht abwartend, ruhig, lächelnd, selbstbewusst und gleichzeitig auf seltsame Weise unsicher. „Während wir warten“…
Der Bildausschnitt wird dabei für den Betrachter zu einer Art Computer-Screen – Fragment eines ganzheitlichen Bildes, Reduktion einer integren Persönlichkeit. Mit dieser Attitüde spielte auch die ursprüngliche Inszenierung: es entsteht die Illusion einer Unmittelbarkeit bei gleichzeitiger maximaler Distanz. Sich zunächst auf den ersten Blick selbstbewusst präsentierend und sich selbst für jeden, der sich interessiert, optisch veräußernd, vermitteln die jungen Frauen dennoch eine Unsicherheit, die erahnen lässt, dass da neben der gefälligen Selbst-Inszenierung auch etwas ist, was sie daran hindert, in tatsächlichen Bezug zu ihrer Außenwelt zu gehen. „Sieh her, nimm mich wahr. Ich zeige mich. Aber ich zeige nur soviel von mir, wie du und ich vielleicht gerade ertragen können und selber sehen wollen…“.
Schmirls Arbeiten sind nicht nur in Malerei übertragene Porträts, sondern sie vermitteln auf behutsame Weise, dass mit der Art und der Wahl des medialen Rahmens einer solchen Selbst-Präsentation dem erklärten Wunsch nach Erkenntnis und Bedeutsamkeit des eigenen Ich entsprochen wird. Gleichzeitig künden die seltsam unwirklichen gemalten Anders-Porträts von der Angst, als Person wirklich „erkannt“ zu werden. Das Internet ist dabei Bühne und Barriere zugleich. Der Wesenskern bleibt letztendlich hinter dem Schleier des Virtuellen verborgen und bleibt unerreichbar. Die Selbstinszenierung bei gleichzeitiger Zurücknahme, Verschleierung oder Travestie der Person ist dabei symptomatisch für die Verunsicherung unserer nachmodernen Gesellschaft, sich mit dem Thema der Identität tatsächlich auseinanderzusetzen.
Wenn die Selbstdarstellung für die sich enteignende Person als identitätsstiftend und stabilisierend angesehen werden kann, so lässt sie aber dennoch nichts als ein anderes Wesen entstehen. Virtuelle Personen und virtuelle Räume haben auf diesem Weg schon längst den Status einer neuen sozialen Realität erlangt.
Ein Jahrhundert lang war für die Abbildbarkeit von Innenräumen und damit für die Konstituierung von darin befindlichen Bildnissen, Porträts und Figurendarstellungen das gerichtete und gleichmäßige Raum-Licht bestimmend. Einer der größten Licht-Magier der Kunstgeschichte, Edgar Degas, bildete – neben den bekannten Motiven – das veränderte Bild-Licht am Übergang von beweglichem, veränderlichem Licht zur statischen Lichtquelle ab, den Übergang vom flackernden Kerzen- und Gaslicht zur Beleuchtung von Theater- , Privat- , und Stadträumen durch elektrischen Strom. Erst seit wenigen Jahren kommt eine neue Lichtquelle dazu: das magische Leuchten der eingeschalteten Computerbildschirme, das hinterleuchtete Bild auf dem Fernsehbildschirm, das Bild, das sich aus Reflexion und Bildzersetzung generiert und damit einen Übergang markiert, wie die von unten angestrahlten pastelligen Tänzerinnen von Degas: die blass irisierenden, selbstleuchtenden und flüchtigen Bildimaginationen von Elisabeth Schmirl markieren genau so einen Übergang: den von der bildhaften Konkretion des Selbst-Bildes zur ephemeren Erscheinung des Anders-Bildes, den von extern beleuchteten Gegenständen zu luminosen Licht-Gestalten.
Ähnlich wie bei Degas’ starken (Farb-)Kontrasten, die seine pastosen Figuren gleichsam ohne Kontur zu gestalten in der Lage sind, sind die von der erleuchteten Mattscheibe im dunklen Zimmer überschimmerten Wesen von Elisabeth Schmirl körperlos und doch anwesend, konkret und doch vage, selbstsüchtig und doch scheu.